Böllinger, Lorenz (1995), Umgang mit Cannabis - Die juristische Situation in Deutschland. In: Peter Cohen & Arjan Sas (Eds), Cannabisbeleid in Duitsland, Frankrijk en de Verenigde Staten. Amsterdam, Centrum voor Drugsonderzoek, Universiteit van Amsterdam. pp. 65-70.
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Anlage 1. Umgang mit Cannabis - Die juristische Situation in Deutschland

Lorenz Böllinger

Das nachstehende Gutachten des Strafjuristen Prof. Dr. Lorenz Böllinger behandelt aus juristischer Sicht die für die Cannabis-Situation in der Bundesrepublik Deutschland besonders wichtige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.3.94, die aus juristischer Sicht als höchst problematisch zu bewerten ist, die jedoch faktisch die Situation sowohl auf der Ebene der Konsumenten wie aber auch in der öffentlichen Meinung und inbesondere auch im Kriminal-Justiz-System entscheidend beeinflußt hat. Es mag als Beispiel für die in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit geführte juristische Diskussion, an der Prof. Böllinger an führender Stelle teilnimmt, dienen.

Umgang mit Cannabis - Die juristische Situation in Deutschland

Bald 25 Jahre nach Verabschiedung des BtMG 1972 und nach diversen Verschärfungen (insbesondere 1981 u. 1992) erscheint das deutsche Drogenstrafrecht einerseits so repressiv und der absoluten Drogenprohibition verhaftet wie nie zuvor. Andererseits hat aber, seitdem 1981 das Prinzip >>Therapie statt Strafe<< institutionalisiert wurde, trotz der formalen Aufrechterhaltung des Abstinenz-Paradigmas der Gedanke von schadensmindernden Maßnahmen (>>harm reduction<<) erheblich an Boden gewonnen. Faktisch sind damit gegen die offizielle Prohibitions-Politik gerichtete Elemente des Akzeptanz-Paradigmas und Tendenzen zur Entkriminalisierungs- und Legalisierungsorientierung normiert worden. Diese Ambitendenz des Gesetzes reflektiert den aktuellen gesellschaftspolitischen und rechtspolitischen Kontext und Konflikt von Modernitätskonzepten: Autoritärer Schutzstaat vs. pluralistische, diskursive, rechtsstaatlich und bürgerrechtsorientierte Demokratie. Sie ist mithin zugleich Hindernis und Chance einer qualitativen Veränderung der Drogenpolitik in Deutschland.

Auf diesem Hintergrund sehen wir als das drogenpolitisch bedeutsamste Ereignis der letzten Jahre die sog. Cannabis-Entscheidung des BVerfG vom 9.3.1994.[1] Und zwar deshalb - so die im weiteren zu begründende erste These, weil sie einerseits Ausdruck von aktuellen gesellschaftlichen und drogenpolitischen Strömungen und Machtstrukturen ist und andererseits rechtlich und faktisch in subtiler Weise steuernd in diese Prozesse eingreift. Insofern gibt der Beschluß nicht vor, einwandfreies Resultat methodisch prozedierender Jurisprudenz zu sein: er ist juristisch-methodisch eine Katastrophe.[2] Vielmehr läßt er - so die zweite These - die Tatsache des die Entscheidung determinierenden Aushandelungsprozesses zwischen verschiedenen Machtinteressen und damit seine eigentlich politische Qualität deutlich durchschimmern.

Die drogenpolitische Ambitendenz von Abstinenz- und Akzeptanzorientierung, von offizieller Prohibition und informeller Permission kennzeichnet nämlich auch die Entscheidung des BVerfG. Einerseits werden zögernd sozialwissenschaftliche Befunde zur Kenntnis genommen, andererseits werden diese aber nicht inhaltlich verarbeitet und der daraus eigentlich sachlogisch zwingenden Schlußfolgerung - nämlich der Legalisierung von Cannabis - zugeführt: Zwar sei der Konsum von Cannabis nicht in dem bei Verabschiedung des BtMG 1972 angenommenen Maße schädigend für die Gesundheit, er bleibe aber Ursache für Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen und stelle damit eine Gefahr für den Zusammenhalt der Familie und für die >>Gestaltung des sozialen Zusammenlebens<< überhaupt dar. Deshalb sei das Strafrecht unverändert geeignetes und erforderliches Mittel der Wahl, um alle Verhaltensweisen zu bekämpfen, die letztlich den Konsum von Cannabis fördern oder Voraussetzung dafür sind - auch wenn der Konsum an sich wegen des verfassungsrechtlich garantierten Prinzips der Straflosigkeit selbstschädigenden Verhaltens (Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 Grundgesetz) straflos bleiben muß. Relativiert wird dieses Zugeständnis an die Prohibitionspolitik aber durch die auf das verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip gestützte Festigung des Opportunitätsprinzips für Gelegenheitskonsumenten von Cannabis und die Aufforderung an die Justiz-Administrationen der Länder, die verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung in der Verfolgungspraxis durch einheitliche Richtwerte anzugleichen. Umgekehrt wird den Prohibitions-Unternehmern durch strikte Restriktion der Liberalisierung auf >>Gelegenheitskonsumenten<< entgegengekommen. Im Grunde hinter den geltenden § 31a BtMG zurückgehend, stellt dies den Versuch dar, die Ausweitung dieser Liberalisierung auf Konsummuster mit Abhängigkeit bzw. auf Heroin und Kokain zu verhindern. Wiederum dem entgegengesetzt ist die Anregung, den erkannten Risiko-Differenzen der Drogen durch eine Veränderung der Rechtsbegriffe >>geringe Menge<< und >>nicht geringe Menge<< Rechnung zu tragen.

Der Beschluß findet nach unserer Einschätzung also einen Kompromiß zwischen den eingangs angedeuteten, aktuell wiedererstarkten gesellschaftlichen Tendenzen zu einem bevormundenden, autoritären Schutzstaat einerseits und dem pluralistisch-liberalen Staat der Bürgerrechte und Diskursethik andererseits.

Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem BtMG 1972 die Grundentscheidung getroffen, unterschiedlichen Wirkungsweisen, Gebrauchsmustern und Risiken verschiedener illegaler Drogen nicht materiell-rechtlich zu entsprechen. Damit ist insbesondere die gebräuchliche, wenn auch aus wissenschaftlicher Sicht problematische Differenzierung von >>harten<< und >>weichen<< Drogen bei den Straftatvoraussetzungen nicht berücksichtigt worden. Stattdessen sind solche Differenzen der richterlichen Tatbestandsausfüllung hinsichtlich der Mengenbegriffe sowie der Feststellung des Schuldumfangs und der Strafzumessung zugeordnet worden. Diese Grundentscheidung ist seither unangetastet und von der Cannabis-Entscheidung des BVerfG sowie auch seither wieder vom BGH (4. Senat, StV 1995, 255) bestätigt worden. Schon diese Grundentscheidung ist ambivalent: sie erscheint aus heutiger Sicht zwar als Hemmnis für die materiell-rechtliche Entkriminalisierung des Umgangs mit Cannabis. Zugleich ist sie aber die dialektische Bedingung der Möglichkeit einer flexiblen Reaktion und allmählichen Modifikation.

Gleich, ob man die Entscheidung als Resultat zufälliger Machtstrukturen im Gerichtssenat oder als intentionale Kompromißleistung deutet, so hat sie doch jedenfalls die Funktion der Offenhaltung des Problems für weiteren normativen Wandel. Sie hat nämlich disparate und kontroverse Entwicklungen auf mehreren Ebenen programmiert. Zum einen hat sie informell - entgegen dem formellen restriktiven und prohibitiven Tenor - die gesellschaftliche Wahrnenhmung und Verarbeitung des Cannabis-Problems in eine Richtung von Thematisierung, Differenzierung, Aufklärung und Lockerung gesteuert. Zum anderen sind die Gegensätze in den föderalen Justizbehörden und Strafverfolgungsinstanzen so groß, daß die geforderte Vereinheitlichung gar nicht zustandekommen und funktionieren kann.[3] Zwar sind die Justizminister der Länder soeben dabei, sich auf eine Minimalgrenze der >>geringen Menge<< von 6 g Straßen-Cannabis zu einigen. Dies ist im Hinblick auf die verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Konsumenten jedoch deshalb praktisch irrelevant, weil die Länder nach wie vor diesen Wert ungehindert nach oben korrigieren und im übrigen zusätzliche Bedingungen hinsichtlich der Konsummuster und der Rückfälligkeit formulieren dürfen. So schwankt die zukünftige Opportunitätsgrenze zwischen 6 g (Bayern, Baden-Württemberg, Saarland, Niedersachsen und - soweit bekannt - den neuen Bundesländern), 3 Konsumeinheiten (Berlin, Brandenburg) 1 Streichholzschachtel (Hamburg), 10 g (Bremen, Nordrhein-Westfalen), 30 g (Schleswig-Holstein, Hessen). Diese Werte sind im Fluß, werden aber durch die heterogene Auslegung der rechtlichen Zusatzkriterien >>geringe Schuld<< und >>öffentliches Interesse<< zusätzlich relativiert.[4] Die fortbestehende Willkür der Entscheidungspraxis wird Maßnahmen des Bundesgesetzgebers oder zumindest eine dazu auffordernde weitere Entscheidung des BVerfG zur Folge haben.

Die andere vom BVerfG geschaffene Sollbruchstelle betrifft die Mengenbegriffe und die Schuld- bzw. Strafzumessung. Zwar haben einige Untergerichte ihre Entscheidungspraxis unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das BVerfG liberalisiert.[5] Das betrifft z.B. Untersuchungshaft- und Strafzumessungsentscheidungen sowie die Auslegung verschiedener Tatbestandsmerkmale der §§ 29 ff. BtMG. Herausragend ist hier die bekannte Entscheidung des LG Lübeck[6], wo 200 g THC-Wirkstoff mit inhaltlich und methodisch äußerst sorgfältiger Begründung und unter Hinweis auf die Anregung des BVerfG nicht als >>nicht geringe Menge<< i.S. des Verbrechenstatbestandes § 29a ff. BtMG gewertet werden. Wenn sich diese Bewertung durchsetzen würde, würde zwangsläufig auch die Grenze der >>geringen Menge<< unabhängig von den Richtlinien der föderalen Justizbehörden justiziell hochgesetzt werden müssen. Diese Entscheidung wird voraussichtlich höchstrichterlich kassiert, denn der 4. Strafsenat des BGH hat am 3.2.1995 bereits trotzig entschieden, daß es bei der Grenze von 7,5 g THC bleiben soll.[7] Andererseits hat der 5. Strafsenat des BGH bereits am 20.6.1994 eine Entscheidung gefällt, welche die Intensität der Verfolgung von Cannabiskonsumenten deutlich mindert[8]: Im Gefolge einer Entscheidung des Großen Strafsenats des BGH vom 3.5.1994[9], wurde der sog. Fortsetzungszusammenhang und damit die sehr hohe Verbrechensstrafen begründende Zusammenrechnung einzelner Teilmengen von Haschisch bei Mehrfachtaten für rechtswidrig erklärt. Es zeichnet sich also wie schon in anderen Fällen, ein interessanter Dissens zwischen verschiedenen Senaten des BGH einerseits und dem BVerfG und BGH andererseits ab, sowie ein >>Unterlaufen<< der verfassungsgerichtlichen Vorgaben durch den BGH, welches letztlich in nicht allzu ferner Zeit eine nochmalige Entscheidung des BVerfG erwarten läßt. Eine Bestätigung dieser Hypothese sehen wir in der Tatsache, daß das BVerfG hinsichtlich der Strafbarkeit von politisch motivierten Sitzblockaden gerade seine eigene - wenn auch von einem anderen Senat gefällte - Entscheidung revidiert hat.[10]

Unabhängig von den Intentionen der Verfassungsrichter sehen wir - und das ist unsere 3. These - in deren Rechtsprechung ein wesentliches Element in einem objektiven politisch-sozialen und normativen Wechselwirkungsprozeß, den man, jedenfalls hinsichtlich Cannabis, als >>ausschleichende Kriminalisierung<< bezeichnen könnte. Angesichts der gesellschaftlichen und politischen Widerstände wäre eine legislative Legalisierung noch auf längere Sicht nicht durchsetzbar und würde zu große Konflikte und Zerreißproben nach sich ziehen. Ein subtiles, stufenweises Vorgehen im Wechselspiel von Drogenpolitik, Drogenjustiz und Drogenarbeit, wie es schon bisher stattgefunden hat, wird weitere Schritte in Richtung Entkiminalisierung und letztlich legislativer verwaltungs- und ordnungsrechtlicher Regulierung bringen. Dieser Prozeß erscheint uns - unter einigermaßen gleichbleibenden gesellschaftlichen Umständen nicht umkehrbar, weil die bereits jetzt wahrnehmbare Entdramatisierung des Cannabisproblems durch die faktische kulturelle Integration ebenso wie durch wissenschaftliche Einsicht und Erfahrungen des Strafverfolgungssystems gestützt wird.

Allerdings sind unter den gegenläufigen Tendenzen beträchtliche Kräfte zu konstatieren, welche bemüht sind, außerstrafrechtliche funktionale Äquivalente der Prohibition zu etablieren. Hier sind insbesondere zunehmende Bestrebungen zu nennen, schon wegen geringfügigen Cannabis-Konsums oder gar wegen des Verdachts auf Konsum die Fahrerlaubnis aufgrund >>Ungeeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeuges<< zu entziehen oder Fahrverbote und empfindliche Bußgelder zu verhängen. Vergleichbares könnte nach U.S.-amerikanischem Vorbild im Bereich der Arbeit und des Versicherungsrechts entstehen, indem Selbstauskünfte, Urin-Tests usw. behauptete Risiken den Konsumenten aufbürden. Hier wird allein weitere fundierte wissenschaftliche Aufklärung nach dem Beispiel der Maastrichter Untersuchung helfen können.

Entsprechend den Strukturen und Traditionen des deutschen Strafverfolgungssystems und der Justiz werden spektakuläre und abrupte Veränderungen im Recht auch weiterhin vermieden werden. Das nuancenreiche Wechselspiel von Drogenpolitik, Drogenpraxis, Strafverfolgung, Strafjustiz und Drogengesetzgebung wird sich fortsetzen. Allerdings zeichnet sich eine zunehmende Tendenz der Strafverfolgungsbehörden und vor allem der Untergerichte ab, vorhandene gesetzliche Auslegungsspielräume mit dem Interesse der Entkriminalisierung von Konsumenten auch gegen die höchstrichterliche Rechtsprechung auszuschöpfen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in dem gewachsenen Interesse der entsprechenden Praktiker an professionellem Austausch und Fortbildung.

Note

  1. Veröffentlicht u.a. in StV 1994, S.295; ausführliche Besprechung: Böllinger, Kritische Justiz 1994, S.405
  2. Darin stimmen mehrere Besprechungen der Entscheidungen in der Rechtswissenschaft überein, z.B.: Schneider, StV 1994, S.390; Lehmann/Exner, Neue Justiz 1995, 173; Ambos, K., MSchrKrim 1995, 47; Haffke, B., unveröff. Man. 1995; Böllinger 1994 (Fn.1).
  3. Vgl. dazu Nelles/Velten NStZ 1994, S.366
  4. Die Daten beruhen auf der noch unveröff. Untersuchung von Pfaff, Alexander: >>Rechtspolitische Steuerung mittels Opportunitätserwägungen im Strafrecht<<, Jan. 1995
  5. Z.B. OLG NStZ 1994, S.589; LG StV 1994, 488
  6. StV 1995, S.
  7. BGH StV 1995, S.255.
  8. BGH StV 1994, S.479
  9. BGH GrStrS NJW 1994, S.1663
  10. Entscheidung vom 10.1.1995: BVerfG StV 1995, 242; die revidierte Entscheidung v. 1.1.1986: BVerfGE 73, 206

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